Wirtschaftswoche – 31.05.2010
Jahrzehntelang haben Betriebsräte erfolgreich zum sozialen Frieden in deutschen Unternehmen beigetragen. Doch einige eklatante Fälle von Machtmissbrauch zeigen: Das Mitbestimmungssystem ist dringend reformbedürftig.
Der Ablauf war jeden Tag ähnlich: Kurz vor sechs Uhr morgens kam Peter Mickeleit* ins Unternehmen, wenige Minuten nach sechs Uhr meldete er sich bei seinem Vorgesetzten wieder ab. Statt seinem eigentlichen Job beim Wohnmobilherstellers Westfalia Van nachzugehen, marschierte Mickeleit direkt in ein knapp 60 Quadratmeter großes Büro hinter den Hauptmontagebändern – dem des Betriebsrats, dem er seit vielen Jahren angehört. Seine grundsätzliche Arbeit dort: PC hochfahren, E-Mails beantworten, mit Mitarbeitern sprechen.
Ein Dienstablauf, wie er laut Betriebsverfassungsgesetz einem freigestellten Betriebsrat in Unternehmen mit mehr als 200 Mitarbeitern zusteht. Nur: Der Mittelständler aus Rheda-Wiedenbrück hatte zu dem Zeitpunkt nur 190 Mitarbeiter – und Mickeleit keinen Anspruch darauf, nur Betriebsratsarbeit zu leisten. Seine Privilegien beruhten auf dem Zugeständnis eines längst ausgeschiedenen Geschäftsführers.
„Ich habe durch Zufall davon erfahren“, erinnert sich Sven Dübbers, seit Dezember 2007 Geschäftsführer bei Westfalia. Im Mai 2008 widerruft er die Vereinbarung schriftlich. „Ich dachte, ich sei im Recht und die Sache klar.“
War sie aber nicht.
Reformbedarf offensichtlich
Mickeleit denkt nicht daran, die Vereinbarung mit dem früheren Geschäftsführer aufzugeben. Dübbers kürzt auf Anraten seines Anwalts Mickeleits Gehalt um 25 Prozent. Die Sache geht erst vors Arbeitsgericht Bielefeld – Dübbers gewinnt, Mickeleit geht in die nächste Instanz, vors Landesarbeitsgericht Hamm. Der Prozess zieht sich, der Betriebsrat hängt einen Aushang am Schwarzen Brett aus, in dem der Begriff „Hexenverfolgung“ fällt. Schließlich muss Dübbers die von seinem Vorgänger gewährte Freistellung mit dreimonatiger Frist kündigen. Erst dann ist die Kündigung gültig. „Ich bin weit davon entfernt, Betriebsratsarbeit zu verdammen“, sagt Dübbers. „Aber diese Erfahrung hat meinen Glauben in dieses System erschüttert.“ Mit seinen Erlebnissen steht der Geschäftsführer nicht allein: Ob sie wichtige Entscheidungen durch Hinhaltetaktik blockieren, mit Kleinkriegen nicht nur das Betriebsklima vergiften, sondern ganze Betriebe lahmlegen, sich Zugeständnisse zu wichtigen Projekten durch Koppelgeschäfte abringen lassen oder es bei der Spesenabrechnung nicht so genau nehmen – regelmäßig kommen in deutschen Unternehmen eklatante Fälle ans Licht, bei denen Betriebsräte ihre Macht missbrauchen. Immer öfter wird deutlich: Das deutsche Mitbestimmungssystem ist dringend reformbedürftig.
Großzügiger als im übrigen Europa
Nirgendwo sonst in Europa sind die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer so großzügig geregelt wie in Deutschland: Während es in den meisten EU-Staaten Mitbestimmungsrechte erst ab 20, 30 oder 50 Beschäftigten gibt, müssen Unternehmen hierzulande eine Arbeitnehmervertretung schon ab fünf Mitarbeitern akzeptieren. Und bei Unternehmen ab 20 Mitarbeitern dürfen die Betriebsräte bereits bei jeder Einstellung, Eingruppierung, Versetzung und Entlassung ein Wörtchen mitreden.
Das Gros der rund 266.000 Betriebsratsmitglieder in Deutschland – in jedem zehnten Unternehmen existiert ein solches Gremium – leistet gute Arbeit, trägt im Dialog mit Geschäftsführern und Vorständen zum Wohle der Wirtschaft bei. Laut einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) halten 74 Prozent aller Deutschen die Mitbestimmung für einen Erfolgsfaktor, 69 Prozent schätzen sie als zentralen Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Mehr noch: Seit das Betriebsrätegesetz im Februar 1920 als Vorläufer des heutigen Betriebsverfassungsgesetzes in Kraft trat, haben sich Betriebsräte besonders in Krisenzeiten bewährt. Das System aus Konsens, Kooperation und Kompromissen hat seitdem so manches Unternehmen vor zähen Arbeitskämpfen bewahrt.
Wohl auch den einen oder anderen Mittelständler: Laut einer Untersuchung der auf Familienunternehmen spezialisierten Beratung Weissmann & Cie haben 42 Prozent der 500 befragten Geschäftsführer einen Betriebsrat und davon wiederum mehr als die Hälfte die Erfahrung gemacht, dass sich dadurch die Zusammenarbeit mit den Beschäftigten sowie das Betriebsklima verbessert haben.
Dass sich diese Partnerschaft größtenteils bewährt, glaubt auch Oliver Stettes, Experte für Arbeitsorganisation und Mitbestimmung beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Doch er sagt auch: „Das Betriebsverfassungsgesetz ist an vielen Stellen nicht mehr zeitgemäß.“
Wie eng Kooperation und Korruption, Kommunikation und Kungelei beieinanderliegen können, machten nicht nur die Skandale um die mit Lustreisen und Geldbeträgen geschmierten Betriebsräte bei Volkswagen und Siemens deutlich.
Üppiger Zuschuss zur Rente
Auch im kleineren Maßstab kommt es immer wieder zu Eklats: Statt wie vorgegeben an einer Weiterbildung zum -Thema „Gleichbehandlung“ in Rostock teilzunehmen, vergnügten sich der Betriebsratsvorsitzende eines Seniorenheimbetreibers und seine Stellvertreterin in einer für Sadomaso-Spiele eingerichteten Ferienwohnung. Obendrein drängte der frivole Arbeitnehmervertreter den Seminaranbieter, die Seminarteilnahme zu bestätigen – sonst kämen keine Buchungen mehr.
In einem Industriekonzern ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft, warum drei Betriebsräte 157.000 Euro mehr Altersgeld erhalten haben, als ihnen eigentlich zustand. Der Verdacht: Mit der Summe sei die Zustimmung zur Schließung eines Betriebes gekauft worden.
Bei einem Mittelständler in Baden-Württemberg wiederum machte der Betriebsratsvorsitzende Dienstfahrten nach eigenen Vorstellungen geltend: Statt Fahrtziel, -grund und Entfernung detailliert aufzuführen, bestand er auf einer pauschalen Abrechnung von 300 Kilometern im Monat. Seine Begründung: Der Arbeitgeber dürfe nicht erkennen, wo der Betriebsrat seine Arbeit geleistet habe.
Möglich sind solche Missbrauchsfälle auch, weil die Unternehmensleitung das Spiel zuweilen gerne mitspielt – freilich meist unterhalb der Schwelle zur Straftat. Da werden vom Betriebsrat zustimmungspflichtige Überstunden genehmigt, wenn der Arbeitgeber Bildungsveranstaltungen in reizvoller Umgebung spendiert. Auch Massenentlassungen werden eher abgenickt, wenn umgekehrt davon bestimmte Mitarbeiter verschont bleiben.
Fehlende Kontrollmöglichkeiten
„Das sind zwar Einzelfälle, aber doch weitaus mehr als nur ein paar schwarze Schafe“, sagt etwa Helmut Naujoks. „Viele Betriebsräte missbrauchen ihre Machtfülle – sie koppeln, kungeln und korrumpieren in einer Form, die für den Arbeitgeber nur schwer nachweisbar ist, aber die Existenz des Unternehmens gefährden kann.“
Wegen Aussagen wie dieser zählt der Düsseldorfer Anwalt, der ausschließlich Arbeitgeber vertritt, zu den schillerndsten und umstrittensten Vertretern seiner Zunft. Bekannt wurde er durch seinen Leitfaden „Kündigung von ,Unkündbaren‘“. In den Rechtsabteilungen der deutschen Gewerkschaften gilt er seitdem als „Mann fürs Grobe“.
Kritik, von der sich der bullige Jurist nicht beirren lässt – und nun mit seinem neuen Buch „Schwarzbuch Betriebsrat“ nachlegt. Naujoks, der sich selbst „ausdrücklich“ zum Betriebsverfassungsgesetz bekennt, kritisiert darin vor allem die fehlenden Möglichkeiten, die Arbeit von Betriebsräten zu kontrollieren: „Der Bundeskanzler kann abgewählt werden – der Betriebsrat nicht“, moniert der Autor. Zudem müssten die Arbeitnehmervertreter ihr Handeln von keiner Kontrollinstanz bewerten lassen. „Und haften müssen sie auch nicht.“ Naujoks Fazit: Das Betriebsratswesen berge die Gefahr eines subtilen Klassenkampfs: In diesem gelte „der Betriebsrat per se als der Gute und der Unternehmer als der Böse“.
Eine Rollenverteilung, die Gerichte nur selten infrage stellen – etwa im Falle Ikea. Die Betriebsratsvorsitzende einer deutschen Filiale des schwedischen Möbelhauses behauptete in einem Fernsehinterview, dass „jeden zweiten Tag der Krankenwagen da war“, dass „Mitarbeiter umgefallen sind, einfach, weil sie überlastet waren, bis hin zum Burn-out“.
Weil sich der Arbeitgeber durch diese Aussagen denunziert fühlte, kündigte er der Mitarbeiterin fristlos – zu Recht: Das Arbeitsgericht Mannheim wertete die Aussagen der Betriebsrätin als falsch: Die behauptete Zahl der Krankenwageneinsätze war stark übertrieben und galt überwiegend der Versorgung von Kunden.
Für Aufsehen sorgte auch ein Vorfall in Mainz: Die rheinland-pfälzische Landesregierung etablierte ein „betriebsrätliches Schnellinformationssystem“, über das der DGB wöchentlich noch bis 2009 Betriebsräte befragte – zu so sensiblen Themen wie geplanter Kurzarbeit, möglichem Personalabbau oder Finanzierungsproblemen. Die betroffenen Unternehmen erfuhren nur davon, wenn die Betriebsräte von sich aus davon erzählten. „Ein Kollateralschaden für vertrauensvolle Zusammenarbeit“, sagt Volker Rieble, Professor für Arbeitsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Da sind Reformen überfällig.“
Geplante Reformen
Die will die Bundesregierung nun anstoßen: Im Koalitionsvertrag mahnt sie die Arbeitnehmervertreter, einen Ehrenkodex ähnlich dem Corporate-Governance-Kodex für Vorstände und Aufsichtsräte zu unterzeichnen, der auch die Bezüge von Betriebsräten offenlegt.
So wie das seit drei Jahren schon bei BASF üblich ist: Der Chemiekonzern ist bisher das einzige Dax-Unternehmen, das die Gehälter seiner Betriebsräte freiwillig kommuniziert – auch, um Gerüchten von überhöhten Einkommen entgegenzutreten. Demnach verdiente ein BASF-Betriebsrat 2009 im Schnitt knapp 65 700 Euro jährlich – und ist damit, so der Betriebsratsvorsitzende Robert Oswald, „weder besser noch schlechter gestellt als ein vergleichbarer Mitarbeiter.“
Auch andere Änderungen im Gesetz sind laut Institut der deutschen Wirtschaft erwünscht: 67 Prozent der befragten Geschäftsführer und rund jeder fünfte Betriebsrat fordern etwa eine Mindestbeteiligung bei Betriebsratswahlen. Jeder zweite Arbeitnehmervertreter könnte mit zwei statt vier Betriebsratssitzungen pro Jahr auskommen – auch, weil es Geld sparen würde: Pro Mitarbeiter kostet eine solche Versammlung im Schnitt rund 150 Euro.
Der größte Wunsch auf Arbeitgeberseite: mehr Beschleunigungsvorschriften. Die würden es Unternehmen ermöglichen, Maßnahmen vorerst auch gegen den Willen des Betriebsrats durchzuführen, bis ein Gericht endgültig über deren Rechtmäßigkeit entschieden hat. Selbst 41 Prozent der Betriebsräte halten diese Veränderung für sinnvoll.
Diese Reform würde sich auch Ewald Quast wünschen. Der heute 50-Jährige hatte im Sommer 2002 per Management-Buy-out den Bereich Biegetechnik vom schwäbischen Baggerhersteller Schaeff übernommen und so vor der Schließung bewahrt. Bald darauf kommt es jedoch mit dem Betriebsrat zum Schlagabtausch. Während dessen Vorsitzender dem IG-Metall-Organ „Metallzeitung“ erzählt, er habe sich von Quast über Monate so bedrängt gefühlt, dass er „psychisch am Boden war“, wirft Quast dem Betriebsrat vor, Kollegen zum Faulenzen angestiftet zu haben („Mach doch nicht so schnell, das Geld kommt sowieso!“).
Die Sticheleien eskalieren. Quast spricht gegenüber mehreren Betriebsräten Abmahnungen unter anderem wegen Arbeitszeitverstößen aus. Als er wenig später wegen zusätzlicher Aufträge die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich anheben will, stellt sich der Betriebsrat quer: „Nehmen Sie die Abmahnungen zurück, dann stimmen wir zu“, rät der Betriebsratsboss dem Geschäftsführer vor Zeugen. Doch statt sich auf den Kuhhandel einzulassen, spricht Quast gegen mehrere Betriebsräte fristlose Kündigungen aus – der Streit endet vor dem Arbeitsgericht Heilbronn mit einem Vergleich: „Ich wollte diese Angelegenheit abschließen“, sagt Quast.
Für Westfalia-Van-Chef Dübbers sieht es derweil nicht ganz so rosig aus: Das Unternehmen hat im Januar Insolvenz angemeldet. Mickeleit arbeitet wieder Vollzeit als Betriebsrat, handelt Sozialpläne aus. „Derzeit entspricht das auch den Anforderungen“, sagt Dübbers. „In so einer Situation ist es notwendig, dass sich der Betriebsrat seiner Verantwortung stellt.“